„Und ich dachte, ab Montag haben wir den Scheiß endlich hinter uns.“
Meine naive Hoffnung am Sonntag Morgen
Update: Soeben wurde der Rücktritt von Wolfgang Dietrich bekanntgegeben. Nach dem Verlauf der MV ist dies der einzig folgerichtige Schritt, nun kann ein wirklicher Umbruch eingeleitet werden, der allerdings nicht beim jetzt zurückgetretenen Präsidenten halt machen darf. Weitere Strukturen müssen hinterfragt werden!
Selbst die wenigen Stunden Schlaf konnten das surreale Gefühl nicht vertreiben, mit dem ich gestern von der letztendlich abgebrochenen Mitgliederversammlung des VfB nach Hause gefahren bin. Das ist doch nicht wirklich alles passiert, oder doch?
Ich war gestern sehr früh in Stuttgart, da ich zur Öffnung der Mercedes-Benz-Arena vor Ort sein wollte, um meine Wortmeldung möglichst früh anzumelden. Ziel war es unter die ersten Neun zu kommen um relativ sicher vor dem zu erwartenden Antrag auf Abbruch der Aussprache meine Rede halten zu können (letztendlich war ich dann auf Platz 3).
Ich möchte an dieser Stelle nicht den Gesamtverlauf der Veranstaltung erzählen, dass kann man zum Beispiel hier hervorragend nachlesen. Vielmehr möchte ich einfach ein paar Eindrücke schildern, die ich gestern so mitgenommen habe.
Wie ich schon geschrieben habe, wollte ich unter anderem für eine Abwahl von Wolfgang Dietrich stimmen. Wie immer bei Mitgliederversammlung versucht man im Vorfeld und im Verlauf des Tages die Stimmung bei den anwesenden Mitgliedern auszuloten. Von vorneherein war klar, dass die für eine Abwahl notwendigen 75% kaum zu erreichen waren, ich hatte aber zumindest auf einen Achtungserfolg von knapp über 50% gehofft, der immerhin hätte ein Zeichen setzen können.
Mit letztendlich 4.400 Mitgliedern waren mehr Menschen der Einladung des VfB gefolgt als im letzten Jahr, von der Menge auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung zur Ausgliederung war man aber natürlich weit entfernt. Der Blick ins Publikum zeigte aber viele junge Gesichter, was ich nicht nur grundsätzlich für das Vereinsleben hervorragend finde, sondern auch Mut für anstehenden Abstimmungen machte.
Überrascht hat mich dann allerdings, dass schon beim ersten Aufruf von Wolfgang Dietrich sehr deutliche Unmutsbekundungen geäußert wurden, damit hätte ich erst im weiteren Verlauf der Veranstaltung gerechnet. Insgesamt muss gesagt werden, dass die MV aber für die aktuelle Situation des VfB zumindest bis zur allgemeinen Aussprache ruhig und gesittet verlief. Sehr, sehr interessant zu beobachten war allerdings, wie sich die Stimmung im Lauf der Aussprache (zumindest aus meiner Sicht) Schritt für Schritt gewandelt hat. Natürlich wurden die Rede jeweils beklatscht und es wurde gepfiffen (je nach Standpunkt), insgesamt aber drehte sich das Blatt in Richtung der Befürworter des Antrags auf Abwahl des Präsidenten.
Aus meiner Sicht gibt es dafür mehrere Gründe:
- Die Befürworter des Antrags traten alle sachlich (wenn auch nicht unemotional) auf und argumentierten jederzeit „über der Gürtellinie“. Dies widersprach dem Bild, dass in den Reden zuvor und auch im Vorfeld der MV gezeichnet wurde (auch zum Framing habe ich ja schon geschrieben)
- Interessanterweise behandelten die Reden gegen den Präsidenten alle unterschiedliche Aspekte, es gab kaum inhaltliche Wiederholungen.
- Auch die Redner selber bildeten einen großen Querschnitt aus der Mitgliedschaft und widerlegten so das Bild der „Krakeeler aus der Kurve“
- Die Reden für Dietrich wirkten orchestriert und inhaltlich abgestimmt, es wurden immer wieder Schreckensszenarien vom drohenden Chaos gezeichnet. Selbstverständlich durften auch die Argumente wie „Der Präsident stellt nicht die Mannschaft auf“, „Dann sagt uns, wer es sonst machen soll“ oder auch die Mär der durch die Ultras traumatisierten Kinder nicht fehlen.
- Wer sich die Mühe machte die Redner pro Dietrich zu googeln kam schnell darauf, dass die meisten aus dem Umfeld des Vereins kommen (Abteilungen, Ausschüsse etc.). Der Verdacht liegt also nahe, dass dies so im Vorfeld vom VfB geplant wurde.
Spätestens mit der Rede von Rainer Adrion, kippte dann die Stimmung und es wurde im häufiger „Dietrich raus“ skandiert. Die Rede von Adrion war in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen sagte er, dass er nicht auf eine Abwahl hoffe, zum anderen brachte er dann aber in seiner Rede jedes Argument, dass FÜR eine Abwahl sprach (und das noch erkennbar mit seinem Blick hinter die Kulissen). Deutlich wurde allerdings auch, dass das Tischtuch zwischen ihm und Wolfgang Dietrich schon vorher zerschnitten war.
Nachdem ich mit meiner Rede schon früh fertig war (siehe Video am Ende des Artikels), habe ich mich im weiteren Verlauf der MV vor allem darauf konzentriert, Wolfgang Dietrich zu beobachten. An ihm konnte man mit zunehmender Dauer deutlich sehen, wie sehr ihn die (vielleicht) unerwartet große Opposition angegriffen hat. Schon zu Beginn konnte man ihm anmerken, dass er durchaus angespannt in die Veranstaltung ging. Dennoch spulte er zunächst routiniert sein Programm ab und auch bei der Aussprache kamen die geübten Mechanisment (Lennart hat diese bei „Rund um den Brustring“ aufgeschrieben) zum Einsatz. Flankiert von seinen Kollegen auf der Bühne antwortete er auf Fragen oder nahm Stellung, wenn auch zunehmend dünnhäutig (man kennt das ja von ihm). Das brach aber irgendwann ab, die Reden wurden nur noch angekündigt, Antworten gab es keine mehr. Waren die Argumente ausgegangen? Nicht mal auf einen Redner, der sich schon mal um das Amt des Präsidenten bewarb, gab es noch eine Replik. Auch in Habitus und Mimik konnte man bei Dietrich gut erkennen, wie sehr ihn der Verlauf der Versammlung belastete – und wie wenig er sich dafür zunehmend zu interessieren schien (ein Redner hat dies auch sehr gut auf den Punkt gebracht). Als später deutlich wurde, dass die MV würde abgebrochen werden müssen, brach Wolfgang Dietrich dann endgültig im übertragenen Sinne zusammen, Verkündete den Abbruch und verließ dann unter wütendem Protest die Arena.
Auch auf Thomas Hitzlsperger lohnte sich immer wieder ein Blick. Wie zu erwarten war er derjenige auf dem Podium, der mit dem meisten Applaus bedacht wurde. Seine Rede war (im Gegensatz zu denen seiner Vorstandkollegen) authentisch und er vermied es auffällig, sich vor den Präsidenten zu stellen. Im weiteren Verlauf der Versammlung kam er dann kaum noch zum Einsatz, sportliche Themen waren in den Reden so gut wie nicht enthalten. Und so konnte eher aus der Warte eines Zuschauers die Vorgänge verfolgen und tat dies manchmal meinem Eindruck nach schon fast mit einem entrückten Blick. Natürlich ist dies meine persönliche Interpretation, aber ich würde sagen, dass er durchaus auch sieht, in welche ungute Richtung der Verein durch das Festhalten von Dietrich an seinen Posten gelenkt wird.
Tatsächlich fehlt mir an dieser Stelle noch die Kraft, mich inhaltlich mit den Berichten aus Vorstand, Präsidium und Vereinsbeirat auseinanderzusetzen, das kommt vielleicht später. Themen gäbe es auf jeden Fall auch dort noch genug.
Hätte es am Ende für die 75% zur Abwahl des Präsidenten gereich? Ich weiß es nicht, das wird niemand sagen können. Deutlich wurde aber auf jeden Fall, dass sich die Stimmung gegen Wolfgang Dietrich gedreht hat. Nicht nur im Vorfeld der MV, sondern auch während der Veranstaltung. Viele Gespräche am gestrigen Tage haben mir gezeigt, dass auch unentschlossene Mitglieder genug von Dietrich und dessen Methoden haben. Bemerkt haben, dass in den letzten Tagen noch eine Kampagne gegen die Befürworter der Abwahl gefahren wurde. Und sehen, dass die Unterstützer des Präsidenten und auch er selbst kaum noch stichhaltige Argumente haben.
Das Momentum ist natürlich jetzt mit dem Abbruch der Mitgliederversammlung komplett verpufft, es zum Nachholtermin wieder aufzubauen wird enorm schwer. Allerdings hoffe ich, dass der gestrige Tag der letzte Tiefpunkt der Amtszeit von Wolfgang Dietrich war und entweder er selbst oder die Strippenzieher im Hintergrund die Konsequenzen ziehen. Ich wünsche dies nicht nur dem Verein, sondern auch Wolfgang Dietrich persönlich, der für sich erkennen sollte, sich dieser Situation und den Begleiterscheinungen nicht mehr aussetzen zu müssen. Der VfB hat sich gestern schon genug zum Gespött der Nation gemacht …